Das Langzeitgedächtnis – Teil 1 (keine Angst, es gibt nur 2 oder 3 Teile)

Das heisst, eigentlich erinnere ich mich daran, wie ich mich vor dem Antritt der Ausbildung beim Stationsvorstand in Zäziwil vorstellte.

Im Winter 1959/1960 brach ich mir bei Skifahren im Gurnigelgebiet ein Schienbein. Weil das während eines Vorunterrichtes (heute J+S) passierte, schiente mir ein Militär-Sanitäter das Bein ein. Mein Vater und ein Nachbar holten mich ab und brachten mich in einem VW Käfer (mit getrennter Heckscheibe und Richtungsanzeiger, keine Blinker!) in das Spital in Oberdiessbach. Nach ein paar Wochen, als alles wieder mehr oder weniger verheilt war und ich an Krücken gehen konnte unternahm ich also die Reise mit der EBT und der SBB nach Zäziwil, um mich vorzustellen. Die erste Bemerkung des damaligen Stationsvorstandes, Herr Hutmacher hiess er, nach der Begrüssung war ungefähr „einen Krüppel können wir dann nicht brauchen“.

Unrecht hatte er nicht unbedingt. Zäziwil ist ja im Emmental und dort ist (oder war?) man nicht so zimperlich, Diplomatie gehörte damals auch nicht zu den normalen Umgangsformen eines Beamten.

Mein Bein erholte sich vom Knochenbruch und ich trat meine strenge Lehre voll funktionstüchtig am 11. April 1960 als Stationslehrling in Zäziwil an. Die „Besatzung“ bestand aus dem Stationsvorstand, einem Stationsbeamten, einem Wärter und einem Stift.
Dann war da noch – praktisch als externe – die Barrieren Wärterin. Ihren Namen habe ich vergessen. Am Ende des Bahnhofareals gab es einen Niveau-Bahnübergang bei der Kantonsstrasse von Konolfingen nach Zäziwil. Den gibt es glaube ich heute noch – allerdings ferngesteuert.

Der Vorstand, Herr Hutmacher, war ein grosser Theoretiker, Herr Soom, der Stationsbeamte war verliebt in „eine aus dem Welschland“ und telefonierte recht häufig mit ihr. Natürlich über das PTT-Netz. Er bezahlte auch, denn am Telefon war ein Schloss angebracht und die Kosten wurden registriert. Jeweils 20 Rp für 3 Minuten. Etwas Französisch habe ich da auch mitbekommen. Nicht alles davon stand im „Ici Fondeval“, dem Franzbuch, das wir in der Schule hatten

Der Wärter war ein absoluter Praktiker und wenn Herr Hutmacher nicht anwesend war (der hatte meistens Frühschicht) sprach er mich immer mit „Stift“ an. Was mich nicht störte, was aber der Chef untersagte, der nannte mich partout immer Herr Sommer. Dass man mich in meinem zarten Alter von fast 17 Jahren so nannte, gefiel mir gar nicht. Aber Scheff war damals Scheff. Der Wärter, Krähenbühl, lehrte mich auch, wie man Rampe, Schuppen und Vorplatz putzt, mit einem Rutenbesen. Aber nur wenn der Scheff nicht da war.

Die Barrierenfrau arbeitete nur stundenweise. Da war am Morgen ein Bummler (heute S-Bahn) von Langnau nach Bern, einer von Bern nach Langnau. Später ein Schnellzugspaar (heute als IR bezeichnet) Bern-Luzern und umgekehrt. Vor und nach der Mittagszeit dann wieder 2 Bummler, am Nachmittag ein Güterzug und ein Schnellzug oder zwei und dann abends wieder die Bummler. Ich durfte dann bei der sehr netten Frau – ihren Namen habe ich vergessen – lernen, wann und wie man Barrieren händisch – also mit einer grossen Kurbel - senkt und wieder hebt. Das könnte ich heute noch, so gut hat sie mir das beigebracht.

Der Bahnhof Zäziwil bestand aus dem Bahnhofsgebäude (Hutmachers wohnten im 1. Stock), einem Schuppen, einer Rampe damit man zum Schuppen hochfahren konnte, drei Gleisen und einem AGL das zur Landi führte. Für die Landi kamen in unregelmässigen Abständen ganze Güterwagen mit Stroh oder Heu. Die mussten dann mit der Güterzugslokomotive auf das AGL verschoben werden. Da war Herr Hutmacher in seinem Element als Pädagoge. Während Krähenbühl zusammen mit dem Oberkonduktör, dem Konduktör und dem Lokomotivführer die Operation gekonnt und routinemässig durchführte erklärte mir Herr Hutmacher anhand eines provisorisch erstellten Planes auf einem dieser komischen roten Notizzettel (Format A6) umfassend die Vorgehensweise. Den praktischen Teil habe ich dadurch verpasst – aber ich durften dann den Güterzug wieder nach Bowil weiterfahren lassen.

In Zäziwil hatte es eigentlich keine nennenswerte Industrie seit 1958 Herr Mauerhofer die Zwergmacherei an den Nagel gehängt, bzw. keine Gartenzwerge mehr hergestellt hatte. Es hatte aber noch zwei Metzger. Die „metzgeten“ damals noch selber. Verkauft wurde, wie das heute wieder zaghaft In Mode kommt „from nose to tail“. Nur die Knochen blieben übrig, es hatte nicht genug Hunde in Zäziwil. Verkauft wurden die Knochen aber schon, nämlich an die Firma Geistlich. Deren Hauptsitz war zwar in Schlieren im weit entfernten Kanton Zürich, sie hatten aber auch eine Knochensiederei in Wolhusen, sie produzierten dort Knochenleim.

Die Knochen wurden per Bahn nach Wolhusen transportiert. Dazu gab es spezielle Güterwagen. Es waren hochwandige Kastenwagen, versehen mit einem zweigeteilten Flachdach, das mit viel Kraft mit einer Winde geöffnet werden konnte, um dann die Knochen, verpackt in Jutesäcken, in den Wagen zu schütten. Das musste ich nicht praktisch lernen. Also diese Knochenwagen blieben dann jeweils 1 Tag in Zäziwil stehen, weil nur ein Güterzug pro Tag verkehrte. Dieser Wagen wurde so weit wie möglich weg vom Bahnhofsgebäude abgestellt. Im Winter war das Problem nicht so intensiv bemerkbar. In der heissen Jahreszeit aber schon. Freude kam dann nur bei den Krähen auf.

Zu meinen Pflichten gehörte auch die Kontrolle der Bahnhofsuhr, bzw. deren Pünktlichkeit. Die war damals schon ferngesteuert (die Uhr). Es war aber noch nicht so lange her, und die SBB trauten am Anfang der neuartigen Technik nicht so recht. Also „dauerklingelte“ immer morgens um 08:00 Uhr eine halbe Minute lang das Streckentelefon und ich musste dann kontrollieren, ob die Bahnhofsuhr auch die gleiche Zeit anzeigte. Was natürlich immer der Fall war. Das Streckentelefon war an einer Wand angeschraubt. Es bestand aus einem Kasten mit zwei grossen, weissglänzenden Signalglocken, einer Kurbel auf der rechten Seite und einem Hörer mit Mikrofon auf der linken Seite.

Nachdem ich diese schwierige Aufgabe zur Zufriedenheit des Bahnhofvorstandes eine Woche lang gelöst hatte, durfte ich auch Billette und Streckenabonnemente verkaufen. Das war zwar nicht weiter schwierig, weil für die gebräuchlichsten Verkehrsverbindungen gedruckte Edmonsonsche Kartonbillette vorhanden waren. Kinderleicht – wenn man nicht vergass, als erstes am Tag das Datum der Datumspresse umzustellen. Etwas komplizierter war das für Relationen, die nicht schon vorhanden waren. Da musste der „Allgemeine Personentarif 601“ herhalten. Leitungswege heraussuchen, Anstosskilometer ablesen und – wenn es ganz schlimm war und der Kunde gar auf den Niesen wollte – „Anstosspreise“ addieren und das Ganze handschriftlich auf Papier bringen. Nebst Kopfrechnen war auch der professionelle Gebrauch der mechanischen Precisa-Rechenmaschine gefragt.

Zweimal wöchentlich mussten die Lehrlinge im Kreis II nördlich des Gotthards nach Luzern zur Schule. Auf dem Weg nach Luzern war Wolhusen ein Schnellzugshalt. Damals konnte man die Fenster in den Zügen noch öffnen. In der warmen Jahreszeit führte das oft zu hässigen Diskussionen unter den Reisenden. In Wolhusen verstillten diese Diskussionen – alle Fenster wurden sofort geschlossen. Die Knochen liessen duftmässig grüssen…

In Luzern wurde uns allerlei beigebracht. Zuvorderst stand natürlich der Personenverkehr. Wir mussten alle Stationen, Bahnhöfe, Bergbahnen und Schifffahrtsunternehmungen zwischen Basel SBB und Chiasso auswendig lernen. Dann Reise- und Güterwagentypen. Sicherheitsmassnahmen wurden uns erklärt. Das alles nicht etwa von Fachlehrern, sondern von Spezialisten aus der Praxis. Das waren nicht unbedingt Pädagogen.
Besonders „gefürchtet“ war Herr Müller, seines Zeichens ein Elektroingenieur, spezielles Fachgebiet Starkstrom. Wir nannten ihn Starkstrom-Müller. Eines seiner Merkmale waren seine braunen Knickerbocker aus Manchesterstoff. Das andere seine sehr direkte Art der Kommunikation. Einmal, als er uns in einem Unterwerk im Kanton Uri demonstrierte was passiert, wenn man Fahrleitungen abschaltet und erdet, entgingen mein Stiftenkollege Winter und ich nur knapp dem Gefängnis. Mir fiel mein Bleistift auf den Boden. Ich bückte mich um ihn aufzuheben – da winkelte Winter, der vor mir stand sein rechtes Bein an, um sich an der Wade seines linken Beines zu Kratzen. Der Zusammenstoss seines Schuhabsatzes mit meinem Kinn war zwar nicht sehr heftig, Sachschaden entstand keiner. Also kicherten wir (Lachen war im Unterricht untersagt). Starkstrom Müller jedoch interpretierte das als Störung des Unterrichtes und verlangte unsere Namen. Wegen dem Eintrag in die Personalakte oder sonst so einem Blödsinn. Folgsam gaben wir uns zu erkennen. Starkstrom Müller war nur kurz sprachlos über diese Frechheit. „Wollt ihr mich vera********?“ schrie er und verlangte unsere ID. Zu seiner Ehrenrettung muss ich sagen dass er nachher selber schmunzelte und eine Pause einlegte.

Soweit der 1. Teil.
Wer jetzt einige Begriffe suchen will, weil ich ausser dem Vorunterricht nichts verlinkt habe, dem empfehle ich nicht Google zu benützen, sondern DuckDuckGo. Wie ihr das in euren Browsern einstellt, steht hier

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