Das Langzeitgedächtnis Teil 2

Wer den letzten Beitrag gelesen hat: in der Küche wollte ich einen Apfel holen…hat dann nach zweimaligem hin- und hergehen auch geklappt. 

So, in Zäziwil kannte ich mich also in der Zwischenzeit relativ gut aus. Ebenso im Verkauf von Billets und Streckenabonnementen. Abonnemente zu verkaufen gefiel mir gut. Wer eins wollte, musste einen Bestellschein ausfüllen, Format A5, rosa. Und zwar mit Füllfeder oder Kugelschreiber, Bleistift war nicht erlaubt. Nebst den Personalien, inkl. Geburtsdatum musste auch der Zivilstand angegeben werden.

Einerseits war das ganz einfach, es gab nur ledig, verheiratet, geschieden oder verwitwet. Das betreffende Kästchen musste nur angekreuzt werden.

Andererseits mussten ja auch die Fräulein (gab es damals noch, in Hülle und teilweise auch in Fülle) das Geburtsdatum angeben. 

Nach etwa einem halben Jahr wurde ich an einen anderen Ort versetzt, wie alle Lehrlinge auch. Von Zäziwil aus konnte ich sogar das Mittagessen bei den Eltern einnehmen und wohnte auch noch daheim. Mein neuer Ort war auf der gleichen Bahnstrecke: Schüpfheim, im Entlebuch. Da war ich dann Wochenaufenthalter. Ich hatte ein Zimmer mit Frühstück bei einer älteren Witwe. Diese nette Frau verkaufte auch Schnaps. Ich glaube es war von Rütter aus St. Erhard. Im halben Keller hatte sie Flaschen mit diversen Schnäpsen verbarrikadiert. Abgekauft habe ich ihr aber nichts.

Dieser Bahnhof war grösser als Zäziwil. Es hatte mehr Personal und mehr Geleise. Nebst dem Bahnhofvorstand (an den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern) waren da noch zwei Stationsbeamte und noch 2 andere Stifte. Es war da auch mehr los als in Zäziwil. Auch was den Güterverkehr betraf.

Und etwas war ganz anders als in Zäziwil: der Stationsvorstand war ein Praktiker. Und er hatte Geschäftsinteresse. Eine absolute Ausnahme für einen Stationsvorstand in dieser Zeit. Für das Kommerzielle waren eigentlich die Kreisdirektion II in Luzern, oder wenn es um ganz grosse Sachen ging, die Generaldirektion in Bern zuständig.

Er liess sich aber vom Kompetenzgerangel nicht beeinflussen und brachte uns bei, die Kunden beim Billet-Kauf zu „beraten“. „Möchten Sie gerne 1. Klasse fahren?“ sollen wir fragen und ja keine Auswahl anbieten. 99% der Kunden kauften trotzdem nur 2. Klasse. 

Wir waren also drei Lehrlinge und wurden jeweils mit Vorname angesprochen. Bei einem der Stifte war sich die übrige Beamtenschaft aber nicht so sicher. Der Toni Ryser war halt schon 30 Jahre alt, war früher Sekundarlehrer und hat dann zur SBB gewechselt und absolviert jetzt eine gewöhnliche Lehre als Stationsbeamter. Das war lustig. Er kannte meinen Klassenlehrer, war mit ihm zusammen im Seminar und erzählte mir ein paar Geschichtchen aus dem Leben der Studenten. Ich wusste natürlich nicht, ob das alles stimmte. Aber nach der nächsten Klassenzusammenkunft (die war etwa 2 Jahre später) verriet mir der leicht rosa angelaufene Teint vom Lehrer Flury und seine verlegen wirkende Miene, dass etwas daran sein müsse. Aber lassen wir das. 

Zweimal im Jahr, im Frühling und im Spätherbst fand in Schüpfheim ein Warenmarkt statt. Viele der Händler aus der Nähe transportierten Ihre Waren auf Pferdefuhrwerken. Wer aber von entfernteren Landesteilen kam, also zum Beispiel aus dem Emmental, liess die Waren von der SBB transportieren, entweder als Frachtgut, Eilgut (war zwei Tage schneller, aber auch teurer) oder gar Express (war nochmals schneller und teurer).

Rein aus Geschäftsinteresse interessierten uns die Rösseler wenig bis gar nicht. Die Marktfahrer aber schon. Eigentlich nur wegen dem Rücktransport der nicht verkauften Waren. Je nach Umfang des Rückversandes waren die Marktfahrer und Marktfahrerinnen mehr oder weniger erfreut. Diejenigen, die höchst erfreut waren sahen wir nicht, die hatten alles verkauft und ihr Retourbillet schon im Sack.

Wer nicht alles verkauft hatte, kam nun in den Genuss unserer Beratung. Klar dass wir nach der Reiseklasse fragten. Noch wichtiger war aber „wie hoch sollen wir das versichern?“. Die Transportversicherung, ich glaube es war die ELVIA, vergütete der SBB nämlich 10 Prozent der Prämieneinnahmen. Und angeblich profitierte auch das Bahnpersonal in Schüpfheim davon. 

Nach dem Herbstmarkt bereitete man sich generell im Entlebuch auf die Wintersaison vor. So auch bei der Station Schüpfheim. Behufs Lenkung der zu erwartenden Wintergäste (Skifahrer, Schneewanderer), die ein paar Stunden oder Tage in Sörenberg verbringen wollten, wurde eine provisorische Lautsprecheranlage installiert. Die Sportler mussten doch informiert werden, wann das Postauto abfuhr und wo sie es finden konnten (gleich vor dem Kiosk auf dem Bahnhofsplatz beim Gleis 1).

Die Anlage wurde dann in Betrieb gesetzt. Während die zwei Stationsbeamten Herr Buob und Herr Sprenger normalerweise ziemlich flink im Rechnen und Zählen waren, kamen sie bei der IBS nicht sehr weit. „Eins –Zwei - Drei – ghörsch mi“ Also „Drei“ haben sie eigentlich nie überschritten. Dafür gab es eine Abweichung bei den Wörtern. Manchmal fragten sie auch nur „ghört me mi?“.

Schlussendlich, gegen Ende der Skisaison ging dann auch alles gut und die Lautsprecheranlage konnte wieder demontiert werden. (gut, das war jetzt ein wenig übertrieben, aber das Zählen und Einstellen der Lautstärke hörte man schon gefühlte x Tage.) 

Die Wintersaison im Entlebuch ging zu Ende wie auch diese Phase der Ausbildung. Zeit für einen Ortswechsel dachte sich der Stiftenvater. Das war ein Landschäftler, an den Namen erinnere ich mich nicht mehr. Die SBB besassen damals ein Haus auf dem Hasliberg, das für verschiedene Zwecke benutzt werden konnte. Der Stiftenvater zog uns Lehrlinge dort zusammen. Dabei ging es darum, dass wir uns besser kennenlernen sollten. Wir mussten dann auch erzählen, was es Besonderes hatte an unseren diversen Stationen und Bahnhöfen. So lernte ich auch, dass es in der Schweiz ein Salzregal gab (und immer noch gibt). Weil nämlich dide SBB im aargauischen Freiamt auch Salz verkaufte.
Wir durften auch noch zusammen mehrere Lieder singen, die etwas mit dem Wohnort oder wenigstens mit dem Kanton von uns Lehrlingen zu tun hatte. Und weil der Stiftenvater aus dem Kanton BL kam, hiess natürlich das erste Lied „Vo Schönebuech Bis Ammel, Vom Bölche Bis Zum Rhy“. An die anderen Lieder kann ich mich nicht mehr erinnern – ausser natürlich an „Bärnbiet Oh Mi Schöni Heimet“ – das haben wir mehrmals gesungen weil eben viele von uns aus dem Bernbiet kamen. Ich darf hier sagen, dass es im Berner Oberland schön war und immer noch ist. 

Ich bin dann noch zwei- oder dreimal versetzt worden. Langnau i.E. und Schönenwerd waren Bahnhöfe, aber an die Reihenfolge kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir wurden nach der Hälfte der Lehre auch als Beamte vereidigt und erhielten einen Ausweis (ohne Foto) der uns als Bahnpolizist auswies. Der Ausweis war aus Halbkarton.

Es gab natürlich vor der Vereidigung eine Prüfung. Was alles geprüft wurde habe ich vergessen. Zum Glück erst nach der Prüfung, ich habe sie bestanden. 

Und danach wurde ich wieder versetzt. Mehr darüber im 3. und letzten Teil.

 
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